EuGH: Der Arbeitgeber muss die tägliche Arbeitszeit vollständig erfassen

Die vollständige Arbeitszeiterfassung ist ein EU-Grundrecht
Die EU-Mitgliedsstaaten müssen nun nationale Regelungen zur vollständigen Arbeitszeiterfassung finden
Arbeitnehmer dürfen durch ihre schwächere Position gegenüber dem Arbeitgeber nicht abgeschreckt werden, ihre Rechte geltend zu machen
Die Mitgliedsstaaten haben einen gewissen Spielraum zur Ausgestaltung der nun notwendigen Regelungen
Von diesem Urteil ist zunächst die Arbeitszeiterfassung betroffen, nicht die Vergütung der Überstunden – das Urteil steht der Überstundenvergütung jedoch auch nicht im Wege

Von Rechtsanwalt für Arbeitsrecht Moritz Till Borchert, Berlin

Mit seinem Urteil (Az.: C‑55/18) vom 14. Mai 2019 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun, nachdem die spanische Gewerkschaft CCOO die Deutsche Bank in Spanien verklagte und ein Arbeitszeiterfassungssystem forderte, da angeblich fast 54 % der Überstunden in Spanien nicht erfasst würden, die einzige Möglichkeit zur Überprüfung, ob zulässige Arbeitszeiten überschritten werden, ist die Arbeitgeber zu verpflichten, die tägliche Arbeitszeit systematisch und vollständig zu erfassen.

Da aus der sogenannten „Arbeitszeitrichtlinie“ (Richtlinie 2003/88/EG) und der Richtlinie zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer (Richtlinie 89/391/EWG ) sowie der EU-Grundrechtecharta folgt, dass die vollständige Arbeitszeiterfassung ein EU-Grundrecht ist, sind die derzeitigen nationalen Regelungen und Rechtsprechungen, welche keine Zeiterfassungspflicht nach sich ziehen, unter Beachtung dieses Urteils korrekturbedürftig.

1. Nationale Umsetzung des Urteils
Natürlich betrifft die Arbeitszeiterfassungspflicht gerade auch die Überstunden, die Arbeitnehmer*innen leisten.

Dies hat jetzt zwar noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die nationale Rechtslage, dennoch sind die EU Mitgliedstaaten nun aufgefordert, durch nationale Gesetze sicherzustellen, dass die gesamte Arbeitszeit erfasst wird. Wie diese Erfassung konkret ausgestaltet werden wird, bleibt also zunächst den Mitgliedsstaaten überlassen. Es ist beispielsweise erlaubt, bei der Ausgestaltung auf die Besonderheiten eines Tätigkeitsbereichs und Eigenheiten bestimmter Unternehmen, wie z.B. dessen Größe, einzugehen.

Insofern ist auch der Aufschrei der der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die Stechuhr werde im 21. Jahrhundert wieder eingeführt, auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 könne man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren, schwer nachvollziehbar.

Hinsichtlich der Lösung ist nun Kreativität gefragt, diesen Raum gibt der EuGH ausdrücklich. Es gibt also keinen Anlass von vornherein alles schwarz zu sehen.

2. Ein Bedürfnis nach Arbeitszeiterfassung besteht nämlich.
Richtigerweise heißt es daher in der Urteilsbegründung des EuGHs:

„Ebenso ist festzustellen, dass ein Arbeitnehmer aufgrund dieser schwächeren Position davon abgeschreckt werden kann, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können „

Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass aufgrund der schwächeren Position des Arbeitnehmers in einem Arbeitsverhältnis der Zeugenbeweis allein nicht als wirksames Beweismittel angesehen werden kann, mit dem eine tatsächliche Beachtung der in Rede stehenden Rechte gewährleistet werden kann, da die Arbeitnehmer möglicherweise zögern, gegen ihren Arbeitgeber auszusagen, weil sie befürchten, dass dieser Maßnahmen ergreift, durch die das Arbeitsverhältnis zu ihren Ungunsten beeinflusst werden könnte.“

„Unter diesen Umständen erscheint es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, die ihnen (…) verliehenen Rechte durchzusetzen, um tatsächlich in den Genuss der Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit sowie (…) täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten zu kommen.

3. Werden jetzt alle Überstunden bezahlt?
Das kann man pauschal nicht sagen oder versprechen. Das Urteil betrifft lediglich die Zeiterfassung, nicht die Bezahlung der Überstunden. Dennoch steht es der Überstundenvergütung auch nicht im Wege.
Generell müssen dem Arbeitnehmer die Überstunden bezahlt werden, soweit kein Freizeitausgleich gewährt wird.
Allerdings kann es im Arbeitsvertrag Regelungen geben, wonach alle Überstunden mit dem regulären Gehalt als abgegolten gelten.

Diese Regelungen sind jedoch nur wirksam, soweit das Gehalt auch hoch genug ist. Derzeit wäre die Regelung bei einem monatlichen Bruttogehalt unter 6.700,00 Euro unwirksam.
Theoretisch können Überstunden zudem auch freiwillig geleistet werden.

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